Zwei neue Stolpersteine in Zehlendorf

Am Sonnabend, dem 8. Oktober 2022, um 9:45 Uhr werden in Berlin-Zehlendorf Kleinaustraße 10 zwei neue Stolpersteine verlegt.

Dr. phil. Eugen Carl Goldschmidt * 25. September 1878 ╬ 13.11.1938
Chemiker und Kunstverleger

Dr. rer. pol. Arthur Jacques Goldschmidt * 04. Juni 1882 ╬ 13.11.1938 Privatgelehrter und Kunstsammler

Über die Lebensführung der Brüder ist kaum etwas bekannt. Beide waren wohlhabend. Sie waren Besitzer der Villa in der Kleinaustraße 10 (bis 1935 Paulstr. 2) und lebten hier bis 1938. Besonders Arthur war im Kunstbetrieb Berlins sehr bekannt und aktiv bei Auktionen.

Die Repressionen der jüdischen Bevölkerung, nahmen in den 30er Jahren immer mehr zu. Das schöne Haus in der Kleinaustraße war schon länger unter Beobachtung der SA, die im Haus Kleinaustraße 9, gegenüber der Villa, eine Dienststelle betrieb. Als die Situation allgemein immer ungemütlicher wurde, zogen Eugen und Arthur Gold-schmidt 1938 in eine Mietwohnung nach Wilmersdorf in die Württembergischen Straße 37/38. Dort verbrachten sie ihre letzten Lebensmonate. Das Haus existiert nicht mehr.

Wie vielen in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden und wurde ihnen erst nach den staatlichen Pogromen richtig klar, dass sie ihres Lebens nicht mehr sicher waren und dass der 9. November 1938 den Übergang markierte von der seit 1933 betriebenen Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung zu ihrer systematischen Verfolgung. Die Brüder Goldschmidt wollten sich Würde und Handlungsfreiheit bewahren und wählten am 13. November 1938 die extremste Form der Flucht, die Flucht in den Tod.

  1. Die Familie Goldschmidt 1700 – 2014

Arthur und Eugen Goldschmidt waren nicht verheiratet und kinderlos. Sie waren die mittleren Kinder von 4 Geschwistern. Ihr älterer Bruder, der Kaufmann Albert Heinrich, geboren am 3. Februar 1877, ebenfalls ledig und kinderlos, starb bereits am 13. März 1907. Die jüngere Schwester Henriette Caroline, geboren am 30. August 1887, war seit 1911 verheiratet mit dem Ingenieur Ernst Moor. Dieser verstarb bereits 1927, seine Witwe (Mitinhaberin der Villa) zog zu ihren Brüdern in die Paulstr. 2, wo sie 1936 starb. Ihre beiden Kinder Edgar und Irmgard konnten sich den Natio-nalsozialisten nach Südafrika entziehen. Südafrika war damals eines der wenigen Länder, die aus dem Nazideutschland geflüchtete Juden aufnahmen. Edgar Moor wurde später US-Bürger, in Boston ansässig, heiratete in eine angesehene nord-amerikanische Familie ein, machte Karriere, blieb kinderlos. Edgar starb 1994 in Lincoln USA. Seine Ehefrau, Joan Thornton Rothwell Moor (Biochemikerin und Dozentin) lebte bis 2012. Die Eheleute reisten viel und besuchten über 100 Länder. Edgars Schwester Irmgard heiratete Franz Albert Hoeniger, ließ sich wieder scheiden und wurde am 10. Oktober 1939 in Johannisburg von ihrem Ex-Ehemann ermordet. Das ist besonders bitter, denn gerade war Irmgard dem Holocaust entronnen, da fiel sie einem Femizid zum Opfer. Kinder hatten Irmgard und ihr Bruder nicht, so dass dieser Zweig der Goldschmidt-Familie hier endet.

Nicht jedoch unsere Suche und nicht unser Gedenken. Die Eltern der vier Geschwister waren Dr. jur. Isaac Heymann Goldschmidt, der seinen Vornamen Isaac später in Jacques änderte, geboren 1842 in Amsterdam und Johanna (Jeanne) Elisabeth geb. Goldschmidt, geboren am 21. Oktober 1855 in Paris. Das Ehepaar war zunächst in Amsterdam ansässig und zog später nach Berlin. Bekannt ist die Adresse in der Kurfürstenstraße 114. Vermutlich wurden alle vier Kinder dort geboren und verlebten ihre Kindheit in diesem Haus. Albert Heinrich lebte darin bis zu seinem Tod. Der Vater Jacques Heymann Goldschmidt starb am 15. November 1911 in Berlin. In der amtlichen Sterbeurkunde wird er als Bankier bezeichnet. Die Mutter Jeanne starb am 5. November 1915. Das Ehepaar und seine drei Söhne – Albert, Eugen und Arthur – sind in einem Erbgrabmal auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee begraben.

Der Großvater der Brüder, der Kaufmann Heymann Goldschmidt wurde 1800 in Deutschland geboren und war dann in Amsterdam ansässig. Seine Amsterdamer Adresse ist bekannt. Heute ist das Haus ein Hotel. Er hatte 10 Geschwister. Verheiratet war er mit Karoline, geborene Goldschmidt, geboren in Frankfurt 1807, dort auch 1878 gestorben. Von dem Ehepaar sind verschiedene Wohnorte (Amsterdam, Frankfurt, Berlin) bekannt, in denen sie abwechselnd lebten. Jacques Heymann war das jüngste ihrer 9 Kinder. Heymann starb 1889 in Stuttgart bei einem seiner Kinder. Angaben zu den anderen Kindern s. im genealogischen Anhang.

Von ihm lässt sich der Familienzweig zurückverfolgen bis zu seinem Großvater Benedict Meyer Goldschmidt-Cassel, geboren 1700, gestorben 1759. Dabei führte die Spurensuche in viele Städte Deutschlands, ins europäische Ausland von Amsterdam nach Wien, aber auch in andere Kontinente.

Bei den vielen Geschwistern von Vater und Großvater der beiden Brüder ist klar, dass es Nebenlinien geben muss, die wahrscheinlich gar nicht alle voneinander wissen. So haben wir über das Landesarchiv Berlin in Wiedergutmachungsakten einen vermeint-lichen Verwandten, den Bankier Jakob Goldschmidt, geb. 1878, ausfindig gemacht. Er konnte bereits 1933 über Paris in die USA auswandern, und lebte mit seiner Ehefrau Sophie in New York. Er starb dort 1955.

Sein Sohn Alfred Erwin Goldschmidt, geboren am 28 August 1916, verheiratet mit Madge Goldschmidt, geborene Lourie, lebte in ebenfalls in New York und war von ein bekannter US-Rennfahrer. Er gewann zwischen 1950 und 1955 mehrere US-Rennen und fuhr ab 1954 für Ferrari. Er starb am 23. Januar 1970 in Greenwich, Connecticut. Er hatte zwei Söhne. Von dem jüngeren Sohn Marc Richard Goldschmidt, geboren am 31. Mai 1952, ist die uns bekannte letzte Adresse Boca Raton in Florida bekannt. Der ältere Sohn, Anthony Jacques Goldschmidt, geboren am 15. September 1942 war ein hochgeschätzter Grafiker und Filmdesigner, er machte Karriere in Hollywood und gründete eine sehr erfolgreiche Firma. Er starb 2014. Von Kindern aus seinen zwei Ehen ist uns nichts bekannt. Kontaktversuche mit Marc und mit seiner Schwägerin liefen ins Leere. Damit endeten zunächst einmal unsere Recherchen.

  1. Die Villa in der Kleinaustraße

Die Villa in der Kleinaustraße 10 wurde 1890 erbaut und steht unter Denkmalschutz. Aus Grundstücks- und Katasterakten wissen wir, dass sie seit 1914 im Besitz der Familie Goldschmidt war und im Laufe der Zeit von unterschiedlichen Mitgliedern der Familie bewohnt wurde. Eugen und Arthur Goldschmidt haben dort mindestens seit Mitte der 1920-er Jahre gewohnt, denn als ihre jüngere Schwester Henriette 1927 Witwe wurde, zog sie zu ihren Brüdern in die Villa und wurde als Miteigentümerin eingetragen. Das Grundstück mit dem Haus ging nach dem Tod der Brüder an den Konvent der Ursulinen. Diese konnten sich aber nicht lange ihres Besitzes erfreuen, denn kurz darauf enteigneten die Nationalsozialisten auch die katholischen Orden.

In dem Haus lebte auch die Hausdame Fräulein Luise Brinkmann, sie organisierte den Haushalt, später auch in der Württembergischen Straße. Sie starb 1943. Daneben gab es ein Hausmädchen, Emilie Dämpfert, ebenfalls jahrelang für die Brüder tätig. Ihr verdanken wir eine genaue Aufstellung von einigen im Besitz der Brüder befindlichen Kunstwerken und anderer Wertstücke. Ihre Liste umfasste 80 Positionen, bei denen aber zu jedem Eintrag oft viele einzelne Stücke gehören. Sie starb 1942.

Das Haus und später die Wohnung müssen wahre Kunsttempel gewesen sein. Insgesamt befanden sich laut Akten des Brandenburgischen Landeshauptarchivs etwa 900 Kunstgegenstände in der Wohnung. Darunter zahlreiche Bilder bekannter Maler, niederländische Gemälde des 17. Jahrhunderts, deutsche und französische Gemälde des 19. Jahrhunderts, wertvolle Teppiche, unter anderem ein Brüsseler Wandteppich aus dem 17. Jahrhundert, seltene Grafiken, Meißner Porzellan der Frühzeit und fran-zösische Möbel des 18. Jahrhunderts. Ferner besaßen Eugen und Arthur Goldschmidt Aktien und andere Wertpapiere im Wert von 120.135 Reichsmark.

Schon 1937 gab es die ersten Enteignungen. Nach dem Tod ihrer Onkel 1938 konnten Edgar und Irmgard, die testamentarischen Erben, ihr Erbe aus nachvollziehbaren Gründen nicht antreten. So wurden fast alle Gegenstände bei mehreren Verstei-gerungen „verwertet“. Nur 30 Stücke wurden einem engen Freund der Goldschmidt-Brüder, Herrn Paolo Lombardo, ausgehändigt, der nach dem Tod von Eugen und Arthur nach Düren verzog. Versteigerer waren meist Kunsthandlungen, die zum Teil den Erlös einfach behielten und damit davonkamen, denn nach dem Krieg lagen einige Firmen in der sowjetischen Besatzungszone und konnten nicht belangt werden.

Nicht alle Kunstwerke wurden versteigert. Nach der 11. Verordnung zum Reichs-bürgergesetz vom November 1941 fiel der gesamte jüdische Besitz an den Staat, wobei „Kunstschätze“ ausgesondert und dem Reichsfinanzminister gemeldet werden mussten. Darunter fielen bei den Goldschmidts einige besonders wertvolle Gemälde und die Brüsseler Wandteppiche aus dem 17. Jahrhundert. Vermutlich gingen sie sofort an Regierungsmitglieder. Sie sind in den Versteigerungslisten nicht aufgeführt, ebenso kein sogenanntes jüdisches Kulturgut und Familienbilder. (Quelle: Dr. Irina Strelow, Brandenburgisches Hauptstaatsarchiv). Generell wurden zahlreiche entzogene Kunst-werke durch Kriegshandlungen vernichtet oder waren nach 1945 verschollen. Nur Weniges wurde restituiert. Die Geschichte der Versteigerungen, des Verbleibs und der Verluste der Kunstwerke wäre ein eigenes Kapitel.

  1. Die Wiedergutmachungsanträge

Im April 1938 gab es eine Verordnung, nach der die Jüdinnen und Juden in Deutschland ihr Vermögen anmelden mussten. Nach dieser Anmeldung wurde dann eine finanzielle Abgabe berechnet. Daher hatten alle Betroffenen das Bestreben, ihren Besitz möglichst niedrig zu bewerten. Leider diente diese aktenkundige niedrige Bewertung als Grundlage bei den Verfahren zur sogenannten Wiedergutmachung. Die Goldschmidts mussten eine „Judensteuer“ von 160.500 Reichsmark entrichten.

Sowohl Edgar Moor als auch Jacob Goldschmidt stellten Wiedergutmachungsanträge. Edgar Moor stellte bereits im November 1950 einen Wiedergutmachungsantrag bei den Treuhändern der Alliierten Militärregierung in Berlin betreffend die Aktien und Wertpapiere der Goldschmidts. Von dem Wert von 125.135 Reichsmark – 1938 ein sehr großer Betrag – erhielt er schließlich 1957 85.955 DM. Für den größten Teil des Vermögens wurde jede Wiedergutmachung abgelehnt.

Insgesamt geben die Wiedergutmachungsakten Anlass zu tiefster Beschämung. Die räuberische Enteignung in den dreißiger und vierziger Jahren wurde von den Finanzämtern durchgeführt. Es agierten teils dieselben Finanzbeamten, die 1938 die Enteignung betrieben, nach 1949 – immer noch als Finanzbeamte – als Bearbeiter der Wiedergutmachungsanträge!

Bankdirektoren, die Bankanteile von Juden, nach deren Flucht oder Deportation einfach als Vermögen ihrer eigenen Bank deklarierten, gelangten in der jungen Bundesrepublik in hohe Ämter und stritten jede Verpflichtung zur Wiedergutmachung später ab, wie man am Beispiel des Bankiers Jakob Goldschmidt sehen kann, dessen Wiedergutmachungsanträge und deren Ablehnung uns vorliegen.

Endgültige Gerichtsentscheide zogen sich wegen der ständigen Widerspruchsverfahren der Beklagten bis in die 70er Jahre hin. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Verfahren der Wiedergutmachung kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind.

Besonders die Finanzbehörden, z. B. in Berlin, wehrten sich mit Zähnen und Klauen gegen jede Rückerstattung. Die Schriftsätze der Anwälte des Berliner Finanzsenators in den 50-er Jahren lehren einen das Gruseln. Auf einen Wiedergutmachungsantrag von Edgar Moor, betreffend die Rückerstattung des Versteigerungserlöses für Haus-haltsgegenstände, antwortete der Berliner Finanzsenator am 4. August 1953, der An-tragsteller möge sich doch bemühen, die Gegenstände selbst wieder ausfindig zu machen, schließlich wären ja die Erwerber der Gegenstände lt. Versteigerungs-niederschrift mit Namen und Anschrift bekannt! Erst nach dem Hinweis von Edgar Moors Anwalt auf die Kriegswirren und die Unmöglichkeit einer solchen Recherche, erklärte sich der Finanzsenator am 5. Februar 1954 bereit, „ausnahmsweise“ den Antrag auf finanzielle Rückerstattung zu bearbeiten.

Dr. Helga Schwarz in Zusammenarbeit mit Marion Fabian

  1. September 2022